Seenotrettung und Menschenwürde

Was haben Flüchtlinge in Nordafrika und die Passagiere eines Flugzeugs gemeinsam? Sie können nicht einfach umkehren.

Im Jahr 2006 hatte das Bundesverfassungsgericht 2006 in seiner Entscheidung eine eher hypothetische Frage zu behandeln. Hintergrund war der Anschlag auf die Gebäude der WTO am 11.9.2001. Die Frage war damals, ob es zulässig sein könne, ein entführtes Flugzeug abzuschießen, wenn die Gefahr drohe, dass es wie bei „9/11“ als Waffe gegen viel mehr Menschen eingesetzt werde, als sich in dem Flugzeug befinden. Die bereits beschlossene Regelung im Luftsicherheitsgesetz, die das ermöglicht hätte, wurde vom Gericht für null und nichtig erklärt. In der Begründung steht:

„Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme (..) greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“

Dieser Gedanke trifft auf die Bootsflüchtlinge sehr ähnlich zu. Unabhängig von dem eigentlichen Grund der Flucht aus ihrem Herkunftsland sind sie in Libyen willkürlicher Verhaftung, Internierung, Folter, Vergewaltigung, Versklavung ausgeliefert. Aber die Fluchtgründe im Herkunftsland, höre ich. Dagegen kann man doch etwas tun. Das klingt wie: macht was vor Ort, dann können die Menschen dableiben. Aber was auch immer man tun kann und teilweise getan wird, hilft den Menschen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben und die in Nordafrika festhängen, nicht im Geringsten. Der überwiegende Teil kommt aus Regionen wie Nigeria, Eritrea, Südsudan, Mali, Somalia, Kongo usw., in denen ihr Leben auf vielfache Weise bedroht ist: Krieg, Dürre, Hunger kommen oft zusammen. Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte mit Geld und gutem Rat von jetzt auf gleich alle Fluchtgründe beheben, und eine gezielte Verleumdung, bei den Afrikanern handele es sich  überwiegend um Wirtschaftsflüchtlinge. Die meisten geben alles her, ungezählte auch ihr Leben, um überhaupt auf die andere Seite der Sahara zu gelangen. Für die Rückkehr ins Herkunftsland haben sie meist weder Kraft noch Mittel. Ihnen bleibt nur das Meer.

In Europa wird dagegen über Flüchtlinge fast nur noch mit dem Hintergrund diskutiert, dass ihre Zahl uns überfordere: von den einen, weil sie einer vermeintlich monoethnischen nationalen Gesellschaft nachtrauern, von den anderen, weil sie glauben, dass die große Zahl aufgenommener Flüchtlinge den Rechtsruck der europäischen Gesellschaften antreibe. Flüchtende so zu den Schuldigen politischer Konflikte in den Zielländern zu machen, missachtet ihre individuelle Ausweglosigkeit, ja ihr Menschsein überhaupt und macht sie zu Objekten eines politischen Konflikts, der viel mehr mit den Haltungen der Menschen in den Aufnahmeländern zu tun hat als mit ihnen. Das Denken ähnelt dem des Gesetzgebers beim Luftsicherheitsgesetz: Wenn so viele Menschen von der „Flüchtlingskrise“ beeinträchtigtwerden, wenn ganz Europa deswegen ein gutes Stück nach rechts rückt, dann müssen die Flüchtenden doch einsehen, dass wir keine mehr aufnehmen können. Abschuss, Volltreffer. Die postulierte Verantwortungsethik wird so zu praktizierter Menschenverachtung.

Natürlich stellt die Aufnahme und Integration einer großen Zahl Geflüchteter Anforderungen an die europäischen Gesellschaften. Aber die zuletzt auf das Niveau von 2012 zurückgefallene Zahl der Asylanträge ist kein wirkliches Problem mehr.

Anders ist es mit dem Rechtsruck. Der ist in der Tat signifikant. Aber hier dürfen Ursachen, Mittel und Wirkungen nicht durcheinandergebracht werden. Rechtspopulistische rassistische Parteien gibt es in Europa seit langem. Die AfD entstand bereits 2013 als vorwiegend europakritische Partei. Dass sie von Anfang an auch gegen Fremde und Minderheiten gerichtete Positionen vertrat, wurde oft übersehen. Es ist nicht die Zahl der Flüchtlinge, sondern die Ausnutzung und Verstärkung von Ängsten und Ressentiments durch rechte Parteien und deren Vorfeldorganisationen wie PEGIDA, die unsere angebliche „Flüchtlingskrise“ begründen. In Wahrheit ist es eine Krise der Demokratie in Europa, des Friedens in der Welt und der Achtung der Menschenrechte, die uns Sorgen machen müsste.

Der deutsche und europäische Umgang mit Flucht und Migration, insbesondere mit den Mittelmeerflüchtlingen verletzt in erheblichem Maße die Menschenwürde der Flüchtenden. Er trägt weder zu Frieden und Sicherheit im Inneren noch dazu bei, den Flüchtenden wo auch immer eine erträgliche Lebensperspektive zu bieten. Höchste Zeit, einen alternativen Umgang mit dem Thema zu fordern. Was immer geschieht, muss mindestens drei Kriterien erfüllen:

Erstens: Die Menschenwürde der Geflüchteten muss gewahrt werden, während der Flucht, bei der unmittelbaren Aufnahme, während des Asylverfahrens und im Fall nicht erweisbaren Schutzbedarfs bei der Rückführung in das Herkunftsland.

Zweitens: Das Asylrecht darf nicht in ein Schutzrecht der aufnehmenden Gesellschaft vor unerwünschten kulturellen Einflüssen verwandelt werden. Es soll weniger uns, sondern in erster Linie den Flüchtenden nutzen.

Drittens: Das individuelle Recht auf ein faires Asylverfahren muss garantiert bleiben. Eine Schwächung der Flüchtlingsrechte hat globale Folgen. Wenn sich Europa abschottet, werden es auch etliche nichteuropäische Transit- und Aufnahmeländer tun. Das wäre das Todesurteil für viele Menschen, die fliehen müssen, um zu überleben.

Nach Artikel 1, Absatz 2 unseres Grundgesetzes sind Menschenrechte „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Ich hoffe, dass die Umkehr rechtzeitig geschieht, bevor die Erosion der Menschenrechte zu gewaltsamen Konflikten auch in Europa führt.

(Andreas Katz)

Dieser Text ist erstmals in der Schweriner Volkszeitung am 21.7.2018 in der Rubrik „Streitbar“ erschienen.

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